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Ein Plädoyer für Selbstbestimmung

Warum mehr Selbstbestimmung wichtig ist und welche Rolle der Schule der Zukunft dabei zukommt - ein persönliches Plädoyer unserer Co-Initiantin Simona Zäh.

Im Verlauf der letzten Jahre – seit ich Mutter und Lehrerin bin (ich unterrichte an der Wirtschaftsmittelschule Bern) – ist für mich klar geworden, dass Lernen ohne Selbstbestimmung nicht wirklich funktioniert. Nicht nur meine ganz persönlichen Erfahrungen haben mir das aufgezeigt (wie mühsam und oft vergeblich war mein Lernen, wenn es mich nicht richtig interessierte und ich keinen Sinn darin fand!), auch zahlreiche Entwicklungspsychologen und Bildungsforscher (wie Gerald Hüther, Remo Largo, Rolf Arnold oder Peter Gray) streichen hervor, wie wichtig die Selbstbestimmung* und damit die intrinsische Motivation ist – und wie schädlich im Gegenzug Druck und Angst für nachhaltiges Lernen sind.

Im Folgenden möchte ich für mehr Selbstbestimmung an unseren Schulen plädieren – im Wissen darum, dass ich damit ein grosses Feld öffne und ich nicht alle Aspekte, Fragen oder Zweifel werde ansprechen können.

Die Folgen fehlender Selbstbestimmung

Als Erwachsene kann ich mich mittlerweile gut davor schützen, gezwungenermassen resp. nicht selbstbestimmt etwas lernen zu müssen, was mich nicht interessiert und worin ich den Sinn nicht sehe. – Unseren Kindern ergeht es in unserem Bildungssystem allerdings anders: Sie haben keine Wahl – und wo sie eine haben, ist diese oft vordergründig und bezieht sich auf die gewählte Methode oder Sozialform, nicht aber auf den eigentlichen Lerninhalt oder den Zeitpunkt. Bulimie-Lernen (also: Wissen in sich reinstopfen als gäbe es kein Morgen, an der Prüfung alles rauskotzen und gleich wieder vergessen) ist eine der Folgen davon – und dass das mit nachhaltigem Lernen oder mit «fürs Leben lernen» nichts zu tun hat, ist offenkundig.

Mit der Fremdbestimmung, der gängigen Normierung und dem dazugehörenden Druck geht aber auch ein Prozess einher, der sich während den ersten Schuljahren langsam einzuschleichen scheint und nach einigen Schuljahren richtig greifbar wird: Schüler/innen geben die Verantwortung für ihre Bildung (eine schöne Definition des Begriffs findet sich hier) ab. Und sie kapseln sich innerlich vom schulischen Lernen und in manchen Fällen vom Lernen generell ab, was in unserer Zeit gar nicht mehr so schwierig ist: Wenn die Neugier als Antrieb fehlt, sind Zerstreuung und Unterhaltung dank dem Smartphone jederzeit in Griffweite.

Bei wem liegt die Verantwortung fürs Lernen?

Was meine ich damit? – Die wenigsten Schüler/innen, die ich kenne, sehen die Ownership über den Lernprozess – also die Verantwortung für ihre Bildung und somit auch für die Vorbereitung aufs (berufliche) Leben – bei ihnen selbst. Wie sollten sie auch: Inhalte, Zeitfenster, Tempi und oft auch Methoden und Sozialformen sind ja von aussen vorgegeben. Und auch die Bewertung des Prozesses und dessen Ergebnis – also ob die Schüler/innen etwas gelernt haben und mit welchen Kriterien das festgestellt wird – liegt nicht in ihrer Hand. Learn to the test ist das Credo, welches das System ihnen vermittelt – nicht learn for life. Und wer kann es ihnen da verübeln, dass das Spiel oft «4 gewinnt» heisst (gewinnen tut derjenige, der Aufwand und Ertrag optimal ausbalanciert und zielgenau auf der Note 4 landet).

Schulen und mit ihnen wir Lehrer/innen versuchen mit der Ausrichtung auf Kompetenz- und Problemorientierung (und mit Marketing-Tricks, digitalen Hilfsmitteln und oft mit ganz viel Hingabe) diesen Systemfehler auszubügeln.

Doch solange die Ownership über den Lernprozess nicht bei den Schüler/innen liegt – wenn die Schüler/innen also nicht wirklich lernen, sondern einfach eine entsprechende Note erzielen wollen –, solange sie nicht für sich, ihr Leben und ihre Zukunft lernen, sondern für das entsprechende Zertifikat, das ihnen die Zukunft erleichtern soll, und solange wir mit unseren dichten Lehrplänen primär die kognitive Ebene ansprechen und das selbständige Anwenden, Umsetzen und Selbermachen zu kurz kommen – solange werden sie sich die Lerninhalte auch nicht «an-eignen» (also nicht zu eigen und somit zu einem Teil des Selbst machen) und solange wird Lernen auch nicht nachhaltig, also nicht for life sondern to the test sein.

Mir ist wichtig, Folgendes festzuhalten: Wenn ich schreibe, dass die Verantwortung für die Bildung bei den Schüler/innen liegen soll, meine ich damit keineswegs, dass die Schule oder wir Lehrpersonen keine Wichtigkeit und keine Verantwortung mehr haben!

Kinder und Jugendliche sollen keinesfalls sich selbst überlassen werden – es liegt in der Verantwortung von uns Erwachsenen, den Schüler/innen mit all unseren Kompetenzen beizustehen und den Rahmen zu schaffen, in dem Lernen gelingen kann. - Der Fokus der Arbeit von uns Lehrpersonen verschiebt sich also vom Führen über Inhaltsvermittlung (und den damit einhergehenden Regeln, Strukturen und Anforderungen) hin zum Führen durch Beziehung.

Hier gehe ich mit dem Entwicklungspsychologen Gordon Neufeld einig, der aufzeigt, dass Kinder tragende Beziehungen zu Erwachsenen brauchen (oder wie er es nennt «sicher gebunden» sein müssen), damit sie den Kopf und das Herz frei haben fürs Lernen, da ihr Hunger nach Beziehung und Bindung gestillt ist.

Ein paar provokative Fragen

Mir ist bewusst, dass diese Thesen sehr provokativ sind und dass meine Behauptungen auch nicht auf alle Schüler/innen zutreffen. Und mir ist auch bewusst, dass das Zertifikat, das die Schüler/innen anstreben, durchaus noch Gewicht hat, da es das Eintritts-Ticket an weiterführende Schulen ist. Die Frage ist nur, wie lange dies noch so sein wird und ob das in Zeiten von Eignungstests (Multicheck etc.) auch noch für den regulären Schulabschluss gilt? – Und ganz abgesehen davon stellt sich mir die Frage, ob wir mit unseren Lehrplänen wirklich die in Zukunft resp. in einer VUCA-Welt und unter dem Paradigma der Digitalität gefragten Kompetenzen vermitteln? – Aus meiner Sicht können wir diese Frage nicht mit einem klaren «Ja» beantworten und deshalb sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob es wirklich Sinn macht, den ganzen Schulbetrieb an den Lehrplänen auszurichten?

Im Hinblick auf die Zukunft werden oft Kompetenzen wie kritisches und divergentes Denken, soziale Intelligenz, Kreativität, Kooperation und Kommunikation, Transdisziplinarität oder Design Thinking genannt. Nur, können solche Kompetenzen überhaupt anders als selbstbestimmt erlernt werden?

Und wenn wir bei provokativen Fragen sind: Sollte nicht eines der Ziele der obligatorischen elf Schuljahre sein, dass die jungen Menschen (erste) Antworten auf die Frage finden, was sie im Leben wollen, wie sie das erreichen und zum Wohl der Gesellschaft einbringen können? – Das sind grosse Fragen, deren Beantwortung viel Wissen, Erkenntnisse und Erfahrungen über und mit sich selbst erfordern – und denen man sich in einem fremdbestimmten Umfeld kaum wirklich zu stellen vermag, da es hierfür Raum und Zeit zum Entdecken, Erforschen und Einüben braucht. – Mich zumindest schmerzt es oft, so viele energie- und ideen-reiche junge Menschen in meinem Klassenzimmer zu sehen, die mehr oder weniger abgelöscht den Unterricht absitzen resp. an sich vorbeiziehen lassen und damit wertvolle Lebenszeit für das wirklich Wichtige verloren geben.

Was heisst eigentlich «selbstbestimmt Lernen»?

Nachdem so viel von selbstbestimmtem Lernen die Rede war, stellt sich natürlich die Frage, was damit genau gemeint ist. Es gibt eine Vielzahl von Definition von selbstbestimmtem Lernen oder self-directed learning. Im pädagogischen Konzept der Unico-Schule haben wir es wie folgt festgehalten: Selbstbestimmtes Lernen bedeutet für uns, dass die SchülerInnen selbst entscheiden, welche Inhalte resp. Lernfelder sie erschliessen möchten und in welchem Tempo dies geschieht. Auch die Wahl der Sozialform liegt bei den Schüler/Innen.

Spannend ist hier wie auch bei anderen Definitionen nicht unbedingt die Definition selbst, sondern vielmehr deren Auslegung und konkrete Umsetzung im Schulalltag, ...

... denn Selbstbestimmung kann ganz unterschiedliche Schattierungen haben. Das zeigen unter anderem folgende Fragen, die an selbstbestimmten Schulen durchaus kontrovers beantwortet werden: Dürfen oder sollen Erwachsene Lernangebote machen? Sollen Erwachsene mit Kindern verbindliche Ziele aushandeln und die Erfüllung ebendieser einfordern? Was geschieht, wenn ein Kind ein bestimmtes Lernfeld meidet?

An der Unico-Schule haben wir diese Fragen für ein erstes auf dem Papier beantwortet. Wie wir Selbstbestimmung konkret leben, wird sich aber erst ab dem kommenden August zeigen. Dann werden konkrete Situationen und Fragestellungen aus dem Alltag unsere selbstbestimmte Lernkultur schärfen – und ich gehe davon aus, dass wir erst in 7-8 Jahren, wenn die ersten Schüler/innen aus der Unico rausgewachsen sind und wir mit ihnen alle Färbungen der verschiedenen Stufen durchlebt haben, eine «konsolidierte» (aber hoffentlich immer noch lebendige) selbstbestimmte Lernkultur haben werden.

Mehr Selbstbestimmung in der Schule – kann das gehen?

Selbstbestimmung ist also wichtig – nur wie soll das in der Schule gehen? Selbstbestimmung an Schulen zu leben oder einzuführen, scheint mir unglaublich schwierig zu sein – und unglaublich einfach zugleich. Schwierig erscheint es mir – auch aufgrund von persönlichen Erfahrungen –, Selbstbestimmung in den oberen Stufen oder weiterführenden Schulen einzuführen. Nach all den Jahren haben die Schüler/innen gelernt, dass da vorne jemand steht, der/die die relevanten Themen vorgibt, die richtigen Fragen stellt und auch gleich die richtigen Antworten kennt (Osterhasen-Didaktik nennt sich das), und der/die auch gleich den einzig richtigen Weg dorthin mitsamt dem korrekten Tempo kennt – und dass ihr Job einfach ist, das vorgegebene Ziel mit dem minimalen Aufwand zu erreichen.

Einfach hingegen erscheint mir, Selbstbestimmung in der Basisstufe zu leben – denn das Allermeiste, was Kinder bis zum Eintritt in den Kindergarten gelernt haben, haben sie sich selbstbestimmt beigebracht. Sie sind quasi Experten wenn es um ihr eigenes Lernen geht! Und sie strotzen nur von dem, was der Entwicklungspsychologe Peter Gray die instinktiven Triebe oder Kernaspekte der menschlichen Natur nennt, die unseren überlebenswichtigen Bildungsdrang prägen: Neugier (den Drang zu erkunden und zu verstehen), Verspieltheit (den Drang zu üben und zu erschaffen) und Geselligkeit (den Drang, Informationen und Ideen zu teilen). Wer je (seine) Kinder beim freien Spiel beobachtet hat, wird dies ebenso bestätigen können wie die Tatsache, dass genau das unser Herz so tief berührt.

Selbstbestimmtes Lernen – wie soll das gehen?

Ich bin überzeugt, dass Lernen grundsätzlich «einfach geschieht» (oder gelingt), wenn einige Rahmenbedingungen erfüllt sind. Hierzu gehört natürlich eine anregende Lernumgebung (niemand lernt lesen, wenn keine passenden Bücher zur Verfügung stehen) und einfühlsame erwachsene Bezugspersonen, die ein von Vertrauen geprägtes Umfeld schaffen, in dem sich die Kinder sicher fühlen (physisch und emotional) und die eine Leidenschaft haben und diese den Schüler/innen vermitteln können (sei es fürs Programmieren, fürs Französisch, für Physik oder für Holzarbeiten). Mehr braucht es aus meiner Sicht nicht – ausser natürlich noch viel Zeit und Raum zum Spielen, Erkunden und um den eigenen Interessen nachzugehen. Ganz explizit braucht es keine mit 45-Minuten-Lektionen durchgetakteten Stundenpläne und auch keine altershomogenen Klassen! Gerade die freie Altersmischung ist match-entscheidend, denn Kinder lernen gerne und gut von anderen Kindern – primär von älteren und mit jüngeren Kindern und weniger von Gleichaltrigen. Und es braucht die Möglichkeit zur Mitbestimmung – aber dazu mehr in einem weiteren Blog-Eintrag.

Eine neue Rolle für die Schule?

Was heisst das alles nun für die Schule der Zukunft?

Die entscheidende Frage ist aus meiner Sicht nicht, wie wir diese Rahmenbedingungen, diesen «Raum» schaffen können (hierfür gibt es an verschiedenen Schulen sehr gute und auch unterschiedliche Beispiele), sondern wie wir den geschaffenen Raum gegen Einflüsse von aussen – also gegen explizite oder diffuse Ängste oder Misstrauen – schützen können?

Kindern brauchen Vertrauen – ein gesundes Selbstvertrauen natürlich, aber auch das Vertrauen, das ihre Bezugspersonen in sie und in ihre individuelle Entwicklung haben. Und genau hier sehe ich die Rolle der Schule der Zukunft. Aus meiner Sicht ist die Unico-Schule auch der Versuch, diese Rolle modellhaft zu leben:

Wir sehen das Innere unserer Schule als einen liebevoll gestalteten und gepflegten Garten, den wir von äusseren Einflüssen schützen möchten – und zwar nicht durch Abschottung, sondern im Gegenteil durch Transparenz und durch das Sichtbarmachen der Lernprozesse.

Individualisiertes Lernen braucht individualisierte Beurteilungsprozesse

Ich bin überzeugt, dass das nicht nur an Privatschulen möglich ist – denn wir an der Unico müssen uns ebenso an den Lehrplan21 mit all seinen Kompetenzen halten wie alle öffentlichen Schulen auch. Und der Lehrplan21 kommt dem Anliegen der Altersmischung und der Selbstbestimmung mit der Einteilung in drei Zyklen (Kindergarten bis 2. Klasse; 3. -6. Klasse, 7. – 9. Klasse) sehr entgegen, da er viel mehr Freiräume für individuelle Entwicklung lässt.

Es stellt sich also die Frage, wie die Brücke zwischen selbstbestimmtem Lernen auf der einen und dem Einhalten des Lehrplan21 (der in unsere Gesellschaft als Garant für gelungenes Lernen gilt) auf der anderen Seite geschlagen werden kann?

Unsere Antwort an der Unico-Schule heisst «mirroco» (mirror of competencies) – ein Tool für die Lernstandserfassung bezogen auf den Lehrplan21. Damit können wir den individuellen Lernstand jedes Kindes sichtbar machen, denn selbstbestimmtes und somit individualisiertes Lernen kann nur mit individualisierten Beurteilungsprozessen einhergehen. Zudem zeigt Mirroco auch auf, wo genau im (sechsstufigen) Lernprozess sich ein Kind befindet und wie es sich seit der letzten Erfassung entwickelt hat. Dies im Gegensatz zu den herkömmlichen Tests und Zeugnissen an Schulen, die einfach aufzeigen, ob ein Kind die Note-4-Hürde resp. die Promotion geschafft hat.

Diese Transparenz schafft Vertrauen und Sicherheit gegen aussen - also gegenüber Eltern und anderen Familienmitgliedern und auch gegenüber den Behörden - und genau das brauchen Kinder, damit ihr Lernen einfach geschehen kann.

Vertrauen und Sicherheit brauchen aber auch Schulen und Lehrpersonen: Wir spüren zwar, dass mit unserem heutigen System etwas nicht (mehr?) stimmt, doch wir alle sind Kinder dieses fremdbestimmten Systems und nicht wenige von uns zweifeln daran, dass selbstbestimmtes Lernen auch wirklich funktioniert...

Dieser Beitrag ist zuerst am 27. Juli erschienen unter www.simonazaeh.ch.

Empfehlenswerte Bücher zum Thema

  • Peter Gray: Befreit Lernen - wie Lernen in Freiheit spielend gelingt

  • Deborah MacNamara/Gordon Neufeld: Vertrauen, Spielen Wachsen

  • Gerald Hüther: Rettet das Spiel

* Ich spreche explizit von selbstbestimmtem Lernen und nicht von «freiem» Lernen. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass «frei lernen» stark konnotiert ist und bei vielen Menschen Bilder von Kindern hervorruft, die ausser Rand und Band sind, keine Regeln befolgen und keine Autoritäten akzeptieren. Nichts davon trifft auf selbstbestimmte Lernkulturen zu.

Titelbild: Leo Rivas

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