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Die Wirkung von Beurteilung verstehen - von Jorge Cendales, Experte für kognitive Neurowissenschaft



Jorge Cendales verknüpft Neurowissenschaften mit Organisationsentwicklung. Er hat über 40 Jahre internationale Führungs- und Beratungserfahrung und besitzt einen Master of Cognitive Neuroscience der Academy of Neuroscience (Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth), führt die Akademie für Potentialentfaltung in der Schweiz (Prof. Dr. Gerald Hüther), ist Mitglied der Akademie für Neurowissenschaftliches Bildungsmanagement (AFNB) und Dozent und Trainer für Integrierte Lösungsorientierte Psychologie (ILP). Bei mirroco engagiert sich Jorge Cendales für eine individualisierte Lernkultur aus Sicht aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse.


Beurteilung hat einen hohen Einfluss auf die Lernmotivation und die Konditionierung unserer Kinder. Kinder werden (leider) früh darauf konditioniert, dass es vor allem auf Leistung ankommt. Auch wenn Lehrpersonen sich zunehmend bemühen, den individuellen Interessen Raum zu geben, zählt am Schluss doch die Note. Die Konditionierung auf Noten beeinflusst bei den meisten Kindern die Lernmotivation nachteilig. Dabei ist lebenslanges Lernen eine Grundeigenschaft des Gehirns. Was geschieht im Gehirn, wenn wir mit Noten oder anderen vergleichenden Methoden beurteilen? Wie kann Beurteilung gehirngerecht gelingen?

Konditionierung bei ungenügenden Noten

Bei ungenügenden Noten wird im Gehirn oft die Amygdala aktiv, die an der Furchtkonditionierung beteiligt ist. Wenn Kinder keinen Erfolg mit Noten haben, assoziiert das Gehirn das Lernen mit Angst. Das ist fatal für die Leistungsfähigkeit des Gehirns, da mit Angst die Funktion der Grosshirnrinde (Cortex und Hippocampus) beeinträchtigt wird. Diese ist Sitz des Arbeitsgedächtnisses (Intelligenz und Verstand), strukturiert Sinneseindrücke zeitlich und räumlich und ist wesentlich beteiligt am planvollen Handeln, Problemlöseverhalten, Entwicklung von Zielvorstellungen und beim Treffen von Entscheidungen (Roth & Ryba). Dass Kinder, welche wenig gute Noten ernten, Angst vor der Schule und damit indirekt vor dem Lernen entwickeln, ist für den weiteren Lebensverlauf einschränkend. Eine solche Angst ist konträr zur Grundaufgabe des Gehirns. "Lernen ist das Grundprinzip unseres Gehirns. Wenn wir unser zentrales Nervensystem definieren wollten, könnten wir sagen, es ist ein Lernorgan", sagt der Neurologe Volker Busch. Konditionierung bei guten Noten

Auch bei guten Noten konditioniert sich das Gehirn, und zwar darauf, dass es für Belohnung lernt. Bei guten Noten wird im Gehirn Leistung mit dem Belohnungssystem und die Belohnungserwartung konditioniert. Belohnungen und entsprechende Belohnungserwartungen lassen sich grob in drei Typen unterteilen: materielle, soziale und intrinsische Belohnungen, die ihre jeweils eigene Dynamik besitzen.

Materielle Belohnung wie Bezahlung, Einkommen, Boni, Privilegien und auch Noten wirken (fast) universell und schnell, weil sie am ehesten eine »Existenzsicherung« versprechen, verlieren aber ihre Wirkung bei jeder Wiederholung. Es gilt, dass die Wirkung umso stärker nachlässt, je höher die ursprüngliche materielle Belohnung war. Hinzu kommt ein Enttäuschungseffekt bei Eintritt einer Belohnung in erwarteter Höhe, denn man hatte insgeheim mit »mehr« gerechnet. Deshalb muss die materielle Belohnung ständig gesteigert werden, bis ein dopaminerger Deckeneffekt eintritt und eine noch höhere Belohnung keinen weiteren positiven Effekt mehr hat. Belohnungen werden schnell als selbstverständlich angesehen. Aber wehe, wenn sie wieder rückgängig gemacht werden, denn dann haben sie einen sehr starken negativen Effekt: Verlust wird nämlich im Allgemeinen doppelt so stark empfunden wie Gewinn (»Verlustaversion«). Soziale Belohnung wie Lob, Macht, Bindung, Anerkennung durch Eltern, Lehrer*innen, Schulkameraden, Titel oder soziale Privilegien werden meist dann eingesetzt, wenn die materiellen Belohnungen ihre motivierende Wirkung verloren haben. Aber auch sie lassen in ihrer Wirkung nach, wenngleich langsamer. Je häufiger belobigt und ausgezeichnet wird, insbesondere nach demselben Ritual, desto schneller verlieren diese Maßnahmen ihre Wirkung. Auszeichnungen »verdienter« Schülerinnen und Mitarbeitenden sind ein probates, aber problematisches Mittel, weil sie fast automatisch Neid und Missgunst hervorrufen. Hier muss besonders auf Transparenz und Gerechtigkeit der Kriterien und des Bewertungsprozesses geachtet werden.

Intrinsische Belohnung besteht in der Freude am Gelingen, der Selbstbestätigung, im Gefühl der Verwirklichung eigener Fähigkeiten und Wünsche (Selbstwirksamkeit), im Gefühl, besser zu sein als andere, in der Überzeugung, an einer wichtigen Sache oder in einer »tollen Schule oder großen Betrieb« mitzuarbeiten. Sie sind die einzige Belohnungsart, die nicht in Sättigung geht und in ihrer Wirkung auch nicht nachlässt, es sei denn aufgrund anhaltender Misserfolge. Oft steigert sich die intrinsische Belohnung mit zunehmender Perfektion einer Tätigkeit und/oder des eintreffenden Erfolgs.

Fazit für die Belohnung von Lernprozessen

Das Belohnungssystem ist beim Lernen und durch den Lernerfolg ständig aktiv und muss nicht zusätzlich durch materielle Reize angeregt werden. Lernen, Glück und Freude sind evolutionär eng miteinander verbunden. «Was man Neugierde nennt, ist eine Art Vorglühen des Glückszentrums. Wenn die Information kommt, wird sie gelernt, ganz schnell. Das genau macht das Zentrum, was uns auch Glücksgefühle bereitet. Es sorgt für ganz rasches Lernen, wenn wir neugierig sind." (Roth & Ryba). Entsprechend ist es wichtig, dass die Beurteilung dazu führt, dass die Offenheit zum Lernen, die Neugierde, der mögliche Lernerfolg und die Selbstwirksamkeit angeregt werden. Die Grenze ob soziale Belohnung bewusst gegeben wird oder unbewusst durch Empathie erfolgt, ist oft schwer zu ziehen. Tatsache ist, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. «Nirgendwo im Tierreich sind die Nachkommen beim Erlernen dessen, was für ihr Überleben wichtig ist, so sehr und vergleichbar langen Zeitraum auf Fürsorge und Schutz, Unterstützung und Lenkung durch die Erwachsenen angewiesen, und bei keiner anderen Art ist die Hirnentwicklung in solch hohem Ausmass von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz der erwachsenen Bezugspersonen abhängig wie beim Menschen» (Spitzer). Die Beurteilung muss mit der entsprechenden Achtsamkeit geschehen, damit die Grundlage der Potentialentfaltung «Verbunden sein und über sich hinauswachsen» erhalten bleibt. Konkret: Auf der Grundlage des Vertrauens klare, wertschätzende, aufbauende Reflexionsgespräche durchführen, die auch Kontroversen und damit den Disput auslösen können, allerdings das Fundament der Bindung, des Dazugehörens stärken.

Fazit für die Beurteilung von Lernprozessen

Das Erhalten des Zustands intrinsischer Belohnung ist deshalb das wichtigste Ziel jeder Schul- und Personalführung. Gehirngerechte Beurteilungskonzepte folgen der Mission: Die natürlich angeborene Freude am Lernen das gesamte Leben lang zu behalten! «Schule muss ein Ort sein, wo die Kinder weinen, wenn sie in die Ferien gehen» (Hüther). Lehrer müssen Kinder begeistern, sie müssen ihnen das Gefühl geben, dass es bedeutsam ist, was sie machen. Wir können aus der Hirnforschung lernen, dass Schüler sich Wissen viel schneller aneignen, wenn sie sich für etwas wirklich interessieren. Nur dann werden im Gehirn jene Botenstoffe ausgeschüttet, die für die Stabilisierung von neuen Netzwerken so wichtig ist. Dann behalten Schüler das Gelernte auch besser. Gehirngerechte Beurteilungskonzepte beruhen auf Begutachtung und öffnen den Raum, den Lernenden aus dem Gelernten zu lernen. Dieser Artikel erschien zuerst als Infoblatt für mirroco. Wir danken Jorge Cendales sehr für die Erlaubnis zur Veröffentlichung im Blog. Ein herzliches Dankeschön ebenso an Paula Duwan für die Organisation!



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