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"Entwicklung passiert nicht unter Druck"

Ein Gespräch mit Mathias Morgenthaler


Nicht nur das Wohlbefinden unserer Kinder heute beschäftigt uns, sondern auch die Frage nach ihrer Zukunft. Wir möchten, dass sie mit beiden Beinen im Leben stehen können, dass sie ein sinnvolles und erfülltes Leben führen. Doch braucht es dazu die besten Noten, einen Studienabschluss, eine berufliche Karriere?


Der Coach, Buchautor und freie Journalist Mathias Morgenthaler hat tausende von Interviews geführt mit Menschen, die in ihrem Beruf ihrer Berufung folgen. Als Mitglied des Patronats-komitees unterstützt er die Unico als Lernort, der Raum gibt fürs Erkunden und Entfalten. Wir wollten genauer von ihm wissen, welche Faktoren im System "Schule" es Menschen schwerer oder auch leichter machen können, ihren Weg zur eigenen Berufung zu finden.


Du arbeitest mit Erwachsenen zum Thema Beruf und Berufung. Welchen Einfluss haben die Erfahrungen aus unserer Schulzeit auf diese Themen?


Viele Erwachsene verhalten sich im Berufsleben, als wäre dieses eine Prüfung und käme es primär darauf an, möglichst wenig Fehler zu machen, sich nicht zu blamieren, sich abzusichern. Das hat meistens mit dem Wertesystem in der Herkunftsfamilie und mit den Erfahrungen in der Schulzeit zu tun. Im schlechtesten Fall dominiert das Gefühl «Ich bin, was ich leiste» in Kombination mit «Es ist nie gut genug».

Was erstaunlich oft komplett fehlt, ist ein Gefühl dafür, was man wirklich will, was sich stimmig anfühlt, wobei man sich lebendig fühlt.

Bei mir sitzen entsprechend viele Hochleistungs-Menschen im Coaching, die durch Anstrengung und Anpassung die Karriereleiter erklettert haben und dort feststellen, dass es trotzdem noch nicht gut genug ist. Und dass sich das erhoffte Gefühl einfach nicht einstellt.


Im normalen System an der Volksschule mit Hausaufgaben, Prüfungen und Noten wird starr unterschieden zwischen der „richtigen“ und der „falschen“ Antwort auf eine Frage. Was macht diese Angst vor „Fehlern“ mit uns und unserer Fähigkeit, Entscheidungen für unser Leben zu treffen?


Permanente Bewertungen und Belohnungen zerstören die intrinsische Motivation und schwächen die Empathie. Das kann man in den Grossbanken mit ihren Boni-Systemen in allen Spielarten beobachten. Zudem ist gut belegt, dass die strikte Unterscheidung in Richtig und Falsch die Kreativität hemmt.

Wer keine Fehler machen darf, wird keine grosse Schöpferkraft an den Tag legen.

Jene, die in einem solchen Schulsystem Bestnoten erreichen, fühlen sich in unbekanntem Terrain oder in ambivalenten Situationen rasch überfordert. Sie brauchen einen engen Rahmen, weil sie nicht gelernt haben, in Unsicherheit und im Vertrauen auf ihre innere Stimme zu entscheiden.


Was müssen wir unseren Kindern mitgeben, damit sie einen Beruf finden, in dem sie nicht nur erfolgreich, sondern auch erfüllt sein können?


Das Wichtigste ist aus meiner Sicht, ihnen mehr Freiräume zu geben.

Denn Entwicklung passiert nicht unter Druck, sondern wenn wir die Freiheit haben, Erfahrungen machen zu können.

Dazu gehört zum Beispiel, dass wir Verschiedenes ausprobieren dürfen und nicht in allem gut sein müssen. Und dass wir keinen Plan fürs Leben haben und diesen konsequent befolgen müssen. Die Förder- und Planungswut vieler Eltern und auch Lehrkräfte richtet da grossen Schaden an. Der Wissenschaftsjournalist David Epstein hat viele herausragende Karrieren in Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und Kunst untersucht und festgestellt: Man muss nicht zwingend früh anfangen, wie besessen üben und sich auf eine Disziplin beschränken, um Grosses zu leisten. Man darf auch als Generalist*in vieles ausprobieren und auf diesem Weg allmählich herausfinden, wofür das Herz schlägt. Diese Haltung macht kreativer, flexibler und zufriedener.


Du bist Mitglied des Patronatskomitees der Unico-Schule. Warum unterstützt Du unsere Schule und welches Potential siehst Du im selbstbestimmten Lernen von Kindern?


Ich bin überzeugt, dass Kinder, die in der Schule nicht in ein enges Korsett von Lektionen und Fächern gezwängt werden, mehr Freude haben beim Lernen und ein besseres Gespür für das Eigene entwickeln. Frithjof Bergmann, der Begründer der New-Work-Bewegung, hat mir im Interview gesagt, wir hätten alle eigentlich ein Gefühl dafür, was wir «wirklich, wirklich wollen», doch dieses werde den meisten frühzeitig abtrainiert. Danach beschränkten wir uns darauf, Erwartungen zu erfüllen und als Arbeitskräfte und Konsumenten zu funktionieren. Meine Hoffnung ist, dass die Unico und andere Schulen mit zukunftsträchtigem Ansatz Heranwachsende darin unterstützen, ein starkes Selbst-Bewusstsein zu entwickeln und die Lebenszeit für eine sinnvolle Tätigkeit zu nutzen.


Was wünschst Du in diesem Sinne der Unico oder den Erwachsenen der Zukunft im Allgemeinen?


Dass wir uns alle trauen, neue Wege zu gehen. Wir sollten Menschen weniger schubladisieren und weniger benoten, aber besser unterstützen in ihrer individuellen Entwicklung. Die Arbeit der Zukunft wird kaum mehr in präzisen Job-Profilen ausgeschrieben sein und an die Bewerber*innen mit den besten Zeugnissen vergeben werden, sondern sie wird in erheblichem Ausmass von Menschen geschaffen, die wissen, wofür sie brennen und wozu sie einen Beitrag leisten wollen.


Unterstützen wir die Erwachsenen von morgen also darin, diesen inneren Kompass zu finden und ihren ganz eigenen Weg zu gehen!

Herzlichen Dank Mathias!


Das Buch "Out of the Box - Vom Glück, die eigene Berufung zu leben" von Mathias Morgenthaler enthält die Essenz aus 1000 Interviews zum Thema Beruf+Berufung und 10 Lektionen für Menschen, die ihrer Berufung näher kommen möchten (Zytglogge Verlag Bern): https://www.beruf-berufung.ch/impulse/out-of-the-box


Mehr zur Arbeit von Mathias Morgenthaler und seinen Interviews findet sich auf seiner Website: https://www.beruf-berufung.ch/


(Fragestellerin: Lucy Gmelch/ Bild: Mathias Morgenthaler)

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